Gedenken an Paul und Ilse Schallück

Im Rahmen einer feierlichen Einweihung wurde die neue Gedenktafel an Paul und Ilse Schallück auf dem Friedhof Müngersdorf am 24. November 2024 enthüllt. Paul Schallück war ein bedeutender Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte, seine Frau Ilse eine engagierte Förderin der Literatur. Die beiden hatten in Müngerdorf gelebt und sind auf dem Friedhof Müngersdorf beerdigt.

 

Die Initiative für die neue Gedenktafel auf dem Müngersdorfer Friedhof ist eine Kooperation des Bürgerverein Köln-Müngersdorf e.V. gemeinsam mit Germania Judaica - Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums e.V. und der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. mit Unterstützung der Kreissparkasse Köln.

Paul Schallück (1922 - 1976) war ein bedeutender Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte sowie Mitbegründer der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der Bibliothek Germania Judaica. Er lebte mit seiner Frau Ilse (1926 - 1978) in Köln-Müngersdorf. Obwohl die Schallücks in Müngersdorf ein Ehrengrab hatten, hat die Stadtverwaltung dieses vor einiger Zeit abgeräumt.

Die Initiatoren der neuen Gedenktafel wollen gerade auch mit Blick auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen die Erinnerung an Personen wie Paul Schallück und Ilse Schallück wach halten. Paul Schallück hatte sich für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, den Kampf gegen den Antisemitismus, die Aufklärung der jungen Generation und den christlich-jüdischen Dialog eingesetzt. Der neue Gedenkstein steht an der Stelle der originalen Grabstätte.

 

Anläßlich der Einweihung hielten folgende Mitbürger Reden:

Anton Bausinger, Bürgerverein Köln-Müngersdorf e.V.

Bürgermeister Andreas Wolter, Köln

Jens Freiwald, Köln. Gesellsch. f. christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V.

Volker Hein, Schauspieler, liest Texte von Paul Schallück

Dr. Ursula Reuter, Kölner Bibliothek zur Geschichte d. Dt. Judentums e.V.

 

Die Redemanuskripte wurden dem BVM zur Veröffentlichung auf dieser Internetseite von den Rednern nach der Einweihungsfeier zur Verfügung gestellt. Für die Reden einfach weiter nach unten blättern. In ihnen ist viel Hintergrund über Paul und Ilse Schallück enthalten. Außerdem die von Volker Hein vorgetragenen Texte aus der Feder von Paul Schallück.

 

Die Verwendung der Redemanuskripte durch Dritte, auch auszugsweise, ist nicht erlaubt. Es gilt das gesprochene Wort.

Text- bzw. Informationsquelle: Einladung zur Einweihung. Stand Nov. 2024, hf

Fotos: Harald Schaefer

 

Ursula Reuter von der Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums e.V. würdigt das Ehepaar Schallück.

Im Namen des BVM bedankt sich stellv. Vorsitzender Anton Bausinger bei allen engagierten Beteiligten.

Interessantes Detail: Ein Foto in der BVM-Broschüre BlickPunkt Müngersdorf von 2012 zeigt noch das alte Grab der Schallücks, das die Stadtverwaltung geschleift hat.

Zum Vergrößern der Bilder einfach draufklicken.

 

Begrüßung durch Anton Bausinger, stellv. Vorsitzender des Bürgervereins Köln-Müngersdorf e.V.


Liebe Müngersdorferinnen und Müngersdorfer,
sehr geehrte Damen und Herren aus Köln,

 

im Namen des Bürgerverein Köln-Müngersdorf begrüße ich Sie alle sehr herzlich. Aber ich darf Sie auch im Namen der Germania Judaica, der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums, wie auch der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit begrüßen.

Weiterhin freue ich mich, hier auch unseren Pfarrer Dr. Wolfang Fey, der in Begleitung von Pater Bonifatius gekommen ist, herzlich zu begrüßen.

Inhaltliche Angaben über Paul Schallück erfolgen mit den weiteren Wortbeiträgen, weshalb ich hier kurz die Hintergründe zu der heutigen Veranstaltung aufzeigen möchte.

 

Als der Bürgerverein Köln-Müngersdorf (Kurt Schlechtriemen) vor einiger Zeit festgestellt hat, dass das Ehrengrab des Müngersdorfer Bürgers Paul Schallück auf unserem kleinen Friedhof komplett abgeräumt wurde, haben wir die Initiative ergriffen und die Idee zu dieser Gedenktafel entwickelt.

 

Zwei Dinge waren uns dabei wichtig:


Einmal, dass sich der Gedenkstein genau an der originalen Grabstätte befindet. Die Birke im Hintergrund, die auch die Einladungskarte ziert, ist Beweis für den richtigen Standort. Wir haben ein altes Foto gesehen nach der Beerdigung, wo sie noch ein ganz kleiner Baum war. Der Friedhofsverwaltung, die ihren Irrtum bedauert, sei heute gedankt, dass sie hier insgesamt vier Grabstellen für immer für diesen Zweck freihält. Einen schriftlichen Vertrag hierüber muss mit der Friedhofsverwaltung noch geschlossen werden.

 

Dann haben wir uns zweitens auf die Suche nach Unterstützern gemacht und mit der Germania Judaica und der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit schnell gefunden. Einige kurze Anmerkungen zu beiden Gesellschaften:

 

Die Germania Judaica wurde 1959 unter anderem von Paul Schallück, aber auch von Heinrich Böll und weiteren Personen gegründet. Man war der Überzeugung, dass die Öffentlichkeit nur sehr unzureichend über die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums informiert sei und dass Unkenntnis Vorurteile begünstige. Die Bibliothek sollte als Instrument gegen den damals immer noch herrschenden Antisemitismus in Deutschland dienen.


Und diese Aufgabe besteht leider auch heute immer noch.

Die Kölner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurde bereits ein Jahr früher, also im Jahr 1958, unter anderem ebenfalls von Paul Schallück gegründet. Sie soll inhaltlich den christlich-jüdischen Dialog suchen und fördern.

 

Wir sind froh und dankbar, dass beide Institutionen unser Anliegen inhaltlich und auch finanziell unterstützt haben. Außerdem möchten wir uns bei der Kreissparkasse Köln bedanken, die unser Vorhaben finanziell unterstützt hat.

Kurz vor dem Ende der Begrüßung, möchte ich ganz besonders Herrn Marco Kaiser begrüßen. Herr Kaiser hat nicht nur diesen Stein überarbeitet, sondern vor allen Dingen nach Gut-Väter-Steinmetzsitte die Buchstaben eingehauen und nicht mit irgendwelchen Buchstaben aufgeklebt. Schauen Sie sich gleich diese wunderbare Arbeit einmal genauer an.

 

Last but not least, möchte ich den in Köln lebenden Schauspieler Volker Hein herzlich begrüßen und ihm für seinen kostenfreien Beitrag danken. Er wird uns zwei Texte von Paul Schallück vortragen.

 

Herr Bürgermeister Andreas Wolter, zunächst haben Sie nun das Wort.

 

Rede von Bürgermeister Andreas Wolter


Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich begrüße Sie ganz herzlich und überbringe Ihnen die besten Grüße des Rates der Stadt Köln und unserer Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

Es ist mir eine große Ehre, heute vor Ihnen zu stehen, um an einen herausragenden Kölner Schriftsteller und Publizisten zu erinnern: Paul Schallück. Hier in Müngersdorf, seiner Wahlheimat, würdigen wir heute sein Leben, sein Werk und sein Engagement. Mit der Einweihung des Gedenksteins wird nicht nur seiner Person gedacht. Die Einweihung soll auch ein Appell sein, das kulturelle Erbe Kölns lebendig zu halten.

Paul Schallück war vieles: Schriftsteller, Kritiker, Nachbar, ein nachdenklicher Beobachter seiner Zeit und ein entschlossener Mahner für Menschlichkeit. Er lebte über fast drei Jahrzehnte in unserer Stadt, ab 1963 in Müngersdorf, wo er in der Belvederestraße eine Heimat fand – ganz in der Nähe von Heinrich Böll, mit dem er nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch eine literarische Vision teilte.

 

Seine Werke – darunter Romane wie Engelbert Reinecke und Don Quichotte in Köln – sind eindrucksvolle Zeugnisse seines Schaffens. Sie verbinden poetische Schönheit mit tiefgreifender Gesellschaftskritik. Köln war für Schallück mehr als Kulisse; es war eine Quelle der Inspiration, wie in seinem Portrait der Stadt, das vom Klang der Kirchenglocken bis zum Stadionjubel ein lebendiges Bild unseres Alltags zeichnet. Mit seinen Worten ließ er Köln nicht nur lebendig werden – er machte es zum Spiegel unserer Gesellschaft.

Doch Schallück war nicht nur Literat, er war auch ein Mann der Tat. Gemeinsam mit Heinrich Böll und anderen bedeutenden Persönlichkeiten gründete er die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Germania Judaica. In einer Zeit, in der die Wunden des Zweiten Weltkriegs noch tief waren, zeigte er Mut und Weitsicht. Er setzte sich für den Dialog ein, für das Erinnern und Verstehen. Dies war für ihn kein politisches Lippenbekenntnis, sondern ein moralischer Auftrag.

 

Besonders eindrucksvoll bleibt sein Beitrag zum Gedenken an die Judenvertreibung und die Gräueltaten der NS-Zeit. Mit scharfer Feder und klarem Blick schrieb er gegen das Vergessen an. Sein Rundfunkbeitrag über den "Exodus aus Köln" rüttelt uns bis heute auf. Es waren Texte wie diese, die Schallück als Stimme der Erinnerung und Mahnung unvergessen machen. Seine Kritik an den damaligen Versäumnissen – sei es von Kirche, Gesellschaft oder Politik – war unbequem, aber notwendig.

 

Liebe Anwesende, Schallücks Engagement und literarische Größe verdienen es, nicht in Vergessenheit zu geraten. Der heutige Gedenkstein ist nicht nur eine Würdigung seines Lebenswerks, sondern auch ein Zeichen dafür, dass wir in Köln seine Werte weitertragen. Es ist eine Erinnerung daran, dass Literatur nicht nur Geschichten erzählt, sondern uns auch Verantwortung aufzeigt.

 

Ich danke dem Bürgerverein Köln-Müngersdorf, der Germania Judaica und der Historischen Gesellschaft für ihren Einsatz, diesen besonderen Moment möglich zu machen. Paul Schallück wäre am 17. Juni 2022 hundert Jahre alt geworden. Seine Worte und sein Wirken sind uns Vermächtnis und Verpflichtung zugleich.

 

Mögen wir seinen Geist in unserer Stadt lebendig halten. Köln ist durch Menschen wie Paul Schallück reicher geworden. Lassen Sie uns dieses Erbe pflegen und seiner immer würdig bleiben.

Vielen Dank

 

Einführende Worte von Jens Freiwald, Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V.


Sehr geehrten Damen und Herren,

 

wenn wir uns heute hier einfinden und die Gedenkstehle für Ilse und Paul Schallück einweihen, so tun wir dies nicht nur, um an zwei Menschen zu ehren und gedenken, die wichtige Persönlichkeiten für den Jüdisch-Christlichen Dialog in Köln darstellten, sondern hiermit verbinden wir auch das Thema Erinnerungskultur – also eines zentralen Bestandteils der Aufarbeitung der Shoa. Das Selbstverständnis der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist es seit jeher, die Erinnerung an den Nationalsozialismus in den unterschiedlichsten Formaten einem breiten Publikum anzubieten. Dies geschieht in Form von Theateraufführungen, durch die Einmischung in gesellschaftspolitisch relevante Debatten, bei theologischen Studientagungen, aber vor allem in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit.


So haben wir es uns schon vor einigen Jahrzehnten unter dem Leitwort „Schreiben gegen das Vergessen“ zur Aufgabe gemacht, an einen „Sohn der Stadt“ Köln zu erinnern, an einen Autor, der sich mit seinen Romanen, Essays, Arbeiten für Rundfunk und Zeitschriften um eine Neuorientierung der deutschen Literatur nach der Katastrophe des Nazi-Terrors und des Zweiten Weltkriegs — zusammen mit Gleichgesinnten, vor allem der Gruppe 47 — verdient gemacht hat. Ich spreche hier natürlich von Paul Schallück, dessen umfangreiche Liste von Veröffentlichungen zum christlich-jüdischen Dialog auch heute noch gewinnbringend nachgelesen werden kann. Seine Publikationen beeindrucken noch immer in Bezug auf seine Weitsicht und seinem solidarischen Impetus. Mit Paul Schallück begegnet uns eine Persönlichkeit, die ergriffen ist von dem Entsetzen über die Katastrophe des nationalsozialistischen Terrorregimes, die in der Shoa gipfelte. In seinem Roman ,,Wenn man aufhören könnte zu lügen“ ist er von der Leidenschaft getrieben, Aufklärung zu betreiben und die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gestaltung einer humanen Zukunft zu nutzen.

 

In zahlreichen Beiträgen behandelt Paul Schallück den Beitrag der Juden und Jüdinnen zum deutschen Geistesleben. Durch die Vermittlung von Wissen sollten Vorurteile abgebaut und die Menschen gegen mögliche neue Vorurteile immunisiert werden, damit ein zukünftiges Zusammenleben zwischen Christen und Juden in gegenseitiger Achtung ermöglicht wird. Heben wir aus der umfangreichen Liste seiner Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog nur einige Beispiele heraus.


Der Beitrag Paul Schallücks über Moses Mendelssohn (1961) bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass Christen und Juden im Dialog wieder voneinander lernen können, wie Moses Mendelssohn und Lessing es beschieden war: in einem beglückenden, leider viel zu kurzen historischen Augenblick sind sie in ein Gespräch über die Bedeutung der Aufklärung eingetreten.


Aus dem Geist Martin Bubers und in seiner Anwesenheit wurde 1959 die Germania Judaica gegründet, dessen erster Vorsitzender Paul Schallück war. Bis 1974 arbeitete Paul Schallück im Vorstand unserer Gesellschaft mit.
Paul Schallücks Wirken müssen wir durchaus im historischen Kontext einordnen, um sein Engagement angemessen würdigen zu können. Denn die 1950er Jahren waren politisch eine durchaus bedrückende Zeit. Viele Nazis saßen wieder in Amt und Würden und ein großer Teil der Gesellschaft waren antidemokratische und antisemitisch gesinnt. Der Antisemitismus war nach 1945 weiterhin in hohem Ausmaß in Deutschland verbreitet und mit einer unterdrückten Wut auf Juden und Jüdinnen verbunden. Bei einer Umfrage von 1946 waren 85 Prozent der Befragten gegen eine Rückkehr von überlebenden Jüdinnen und Juden nach Deutschland. Ein Jahr später ermittelte der Antisemitismusreport der US-Militärregierung in einer Studie, dass 18 Prozent der deutschen Bevölkerung als radikale Antisemit:innen, ein weiter großer Anteil massive Ressentiments gegen Jüdinnen, Juden äußerten und zugleich rassistisch argumentierten. Lediglich 20 Prozent konnten als demokratisch Gesinnte und mit relativ wenig Ressentiments ermittelt werden. Im Laufe der 1950er Jahr nahm der Antisemitismus langsam ab, aber auch noch 1958 gaben noch 22 Prozent der Bundesbürger:innen an, es sei besser, wenn keine Juden und Jüdinnen in Deutschland lebten.

 

Trotz dieser bedrückenden Situation war Paul-Schallück der Überzeugung, man müsse den Juden und Jüdinnen Mut machen, in Deutschland zu bleiben. Als Voraussetzung nannte er Zivilcourage in der Mehrheitsgesellschaft, die Bereitschaft zur Erinnerung an das Verbrechen an den Juden und die daraus-sich entwickelnde demokratische Gestaltung der Zukunft.


An der Gestaltung der Zukunft wollte Paul Schallück mit den Mitteln der Aufklärung und Erziehung energisch mitwirken. Als er glaubte, die Germania Judaica, beschränke sich zu sehr am „Aufbau ihrer Bücherbestände“ und gehe nicht mit der nötigen Entschiedenheit mit Veranstaltungen in die Öffentlichkeit, trat er unter Protest 1962 vom Vorsitz zurück— auch-dies ein Zeichen seines unversöhnlichen Ernstes bei der Aufarbeitung der vergangenen Schuld. Wie wir aus den Studentenprotesten gegen Ende dieses Jahrzehntes wissen, wären viele solcher Stimmen nötig gewesen, um die Erstarrung der Gesellschaft in Selbstzufriedenheit und Wohlstandsdenken aufzubrechen, um zu verhindern, dass die Deutschen eine „zweite Schuld“ auf sich laden, die der Verdrängung, die Ralph Giordano zu Recht oft beklagt hat. Es ist der von konservativer Seite heute gerne gescholtenen 68er-Generation zu verdanken, dass rückwärtsgewandtes, gar reaktionäres Gedankengut in den Köpfen und unter den Talaren kritisch hinterfragt wurden. Daran, dass dies auch nachhaltig wirkt, arbeiten wir mit Energie und Konstanz seit mehr als sechs Jahrzehnten.

 

Die tragische Ironie, die jedoch darin besteht, dass ein Dichter, der so entschieden gegen das Vergessen schrieb, schon wenige Jahre nach seinem Tod seinerseits fast vergessen ist. Dies ist nicht hinnehmbar, insbesondere, da wir in der Gegenwart einen erstarkenden Rechtsextremismus und Antisemitismus wieder vorfinden. Daher muss Paul Schallücks entschiedenes Eintreten für das, was auch uns wichtig ist, unvergessen bleiben. Es ist daher dringend geboten, diesen wunderbaren Schriftsteller auch für die junge Generation neu zu entdecken. Wenn uns dies gelingt, wäre ein wichtiges Element der Erinnerungskultur in Köln wiederhergestellt.

 

Schlußwort von Dr. Ursula Reuter, Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums e.V.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, werte Vorredner,

 

auch ich freue mich, dass Sie heute gekommen sind, um Paul und Ilse Schallück zu gedenken.


Ich möchte mich zunächst sehr herzlich bei dem Bürgerverein Köln-Müngersdorf – und insbesondere bei Herrn Bausinger – für die Initiative bedanken, die uns hier zusammengeführt hat. Als Geschäftsführerin der Bibliothek Germania Judaica, deren Mitgründer Paul Schallück war, ist es mir eine Freude, dass es hier in Müngersdorf nun – wieder – einen Ort gibt, der an Paul und Ilse Schallück erinnert. Eine Initiative, die der Vorstand der Germania Judaica sehr gerne unterstützt.


Sie haben schon einiges über und von Paul Schallück (1922-1976), sein literarisches und gesellschaftliches Engagement und seinen Aktivismus gegen die „Vergesslichkeit“ gehört, ich möchte nur kurz ein paar Details über seine Bedeutung –und die seiner Frau – für die Gründung und Entwicklung der Germania Judaica in den Jahren 1958 bis 1962 hinzufügen.
Von der Idee, eine Bibliothek – ich zitiere – „zur Erforschung der deutsch-jüdischen Verhältnisse“ aufzubauen, hörte die Öffentlichkeit erstmals aus dem Mund von Paul Schallück, und zwar im Juni 1958 bei dem Empfang der Stadt Köln für den Religionsphilosophen Martin Buber. Neben ihm wurden schon damals in der Presse sein Schriftsteller-Kollege und Nachbar Heinrich Böll (1917-1985), der Buchhändler Karl Keller und der Publizist Wilhelm Unger (1904-1985) als Initiatoren genannt.

 

Diese vier gehörten auch zu den Unterzeichnern des Protokolls der Gründerversammlung am 2. Januar 1959, bei der der „Verein für die Gründung, Förderung und Unterhaltung der Martin-Buber-Bibliothek für die Geschichte des Judentums in Deutschland“ ins Leben gerufen wurde. Daneben finden wir aber auch die Unterschriften von zwei Persönlichkeiten, über deren Rolle im Gründungsprozess die Quellen keine weitere Auskunft geben: Ilse Schallück und Annemarie Böll.


Wir wissen leider bislang nicht, was Annemarie Böll und Ilse Schallück mit der Bibliotheksidee verband und ob und welche Ambitionen sie hatten, sich dort einzubringen. Auf jeden Fall scheint die weitere Entwicklung zunächst wieder reine Männersache gewesen zu sein. Mitte Februar 1959 wurde als Name der neuen Institution „Germania Judaica. Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentum“ festgelegt – auf Vorschlag von Alfred Wiener, dem Gründer und Direktor der berühmten Wiener Library in London, der die Etablierung der Kölner Bibliothek mit Rat und Tat und nicht zuletzt einer großen Zahl von Dubletten unterstützte.
 
Am 28. Februar 1959 kam es zu einer zweiten und definitiven Gründungsversammlung – nun allerdings ganz ohne Frauen.
Mit Heinrich Böll als erstem und Paul Schallück als zweitem Vorsitzenden – sowie mit Dr. Jutta Bohnke-Kollwitz, die seit Februar 1960 als Geschäftsführerin wirkte – entfaltete die Bibliothek in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Aktivitäten.
 
Erwähnt sei nur die Veranstaltung „Heimweh nach der deutschen Sprache“ am 5. November 1959 vor etwa 700 Zuhören und Zuhörerinnen im Gemeindesaal der gerade wieder eröffneten (und kurze Zeit später geschändeten) Synagoge Roonstraße. Neben dem aus dem Exil in England nach Deutschland zurückgekehrten Wilhelm Unger, der zum Thema Emigration und Heimat sprach, stellten Heinrich Böll die ihm gleichaltrige Schriftstellerin Jenny Aloni (1917-1993) und Paul Schallück die Lyrikerin und Nobelpreis-Trägerin von 1966 Nelly Sachs (1891-1970) vor. Karl Keller sprach über Martin Gumpert (1987-1955) und Gert H. Theunissen über Karl Wolfskehl (1869-1948).

 

Paul Schallück verband große Hoffnungen und Erwartungen mit der Gründung, die er in einem Brief an Paul Celan am 9. Mai 1959 formulierte:
 
„Unsere Bibliothek hat keinen institutionellen, keinen musealen, keinen wissenschaftlichen Charakter. Ihre Idee wurde geboren aus der Sorge, aus der Furcht vor einem neuen und vor dem alten Antisemitismus in Deutschland. Sie ist eine öffentliche (...) Bibliothek mit konkreten Zielen pädagogischer Arbeit. Sie steht vor allem jungen Deutschen und ihren Lehrern zur Verfügung, aber nicht nur zur Verfügung; sie geht von sich aus auf junge Menschen und ihre Lehrer zu. Diesem Ziele dient natürlich zunächst die Präsenz der Bibliothek selbst als Leihanstalt, aber auch: ein Bulletin, eine Schriftenreihe (…), eine Dokumentensammlung (…). Vortragsreihen, vor allem Aussprachen in Schulen und Universitäten.“

 

Schallück sah sehr klar die Notwendigkeit, die junge Generation aktiv anzusprechen, eine Herausforderung, vor der die Germania Judaica auch heute immer noch und wieder steht. Dass er mit seiner aktivistischen politischen Bildungsarbeit die insgesamt doch wenigen Menschen, die sich für sie ehrenamtlich und professionell engagierten, überforderte, sah er vielleicht nicht so klar. So war sein Rückzug aus der Germania Judaica höchst bedauerlich, aber möglicherweise auch unvermeidlich. Seine Verdienste um die Germania Judaica schmälert dies in keiner Weise, und seine Ansprüche an ihre Wirksamkeit sind nicht weniger aktuell als vor über 60 Jahren.

Vielen Dank.

 

Von Paul Schallück: "Der Platz, an dem ich schreibe".

Vorgetragen von Volker Hein.

 

Quelle: (bereits gekürzter) Textauszug [...]
Wolfgang Delseit: »Eine Stadt mit tausend Gesichtern« · Paul Schallück und Köln / Veröffentlichung im Internet:

http://www.literatur-archiv-nrw.de/lesesaal/Essays/Wolfgang_Delseit___Eine_Stadt_mit_tausend_Gesichtern_/seite_1.html
 

 

»Der Platz liegt in Köln am Rhein. Köln dringt zu mir herein mit Glockengeläut und Motorengesumm, Hubertushörnern und Rasenmähern, Straßenbahngeknirsch, Hundegebell und Massengebrüll, wenn im nahen Stadion der Ball in den Kasten gepfeffert wurde. Kölns Luft atme ich ein, ein Gemisch aus Landgeruch und Chemiedünsten, Industriegasen und Blumendüften. Ich gehe in die Stadt, in der eine sonderbare, lebendige, aus Mittelhochdeutschem, aus dem Rom der Römer und Italiener, aus Frankreich, Spanien, den Niederlanden angereicherte Sprache gesprochen wird. Mein Platz hängt auch im Netz der Kölnischen Mundart, in der vieles gegenwärtig ist: Geschichte und Gegenwart, der Bauer und der Großstädter, der Dom und Rosenmontag, der Rhein und die Mädchen.

Köln ist eine unter den Städten der Bundesrepublik. Mit vielen hatte sie die Trümmer eines Tausendjährigen Reiches und des zweiten Weltkrieges gemeinsam; wie viele hat sie sich unterm Neonlicht wieder aufgebaut. [...] Wie in anderen Städten: ein Rundfunkhaus und ein Fernsehpalast, eine wiedererrichtete Synagoge, Hochhäuser, hier und da noch Baracken; Studenten aus Asien, Afrika, Amerika, aus Deutschland einige mit zerschnittenen Gesichtern. Unverkennbar: eine Stadt der Bundesrepublik, in der sich der Platz befindet, an dem ich schreibe.

Diese Republik liegt in Europa. Über meinen Schreibtisch hinweg wackelt der Hubschrauber von Bonn nach Brüssel; wenn es still ist, höre ich den Expreß von Stockholm nach Paris, oder von Warschau nach Madrid sausen. Düsenjäger der Nato durchbrechen die Schallmauer, lassen Fensterscheiben klirren, mich mit Verwünschungen hochfahren und auf den Balkon stürzen; aber der Pilot sieht dann schon Aachen und Belgien oder Holland vor sich auftauchen. Im Lebensmittelgeschäft gegenüber werden polnische Pflaumen und jugoslawischer Honig angeboten, französischer Wein und englischer Whisky, dänische Butter und spanische Apfelsinen, griechisches Öl und Zitrusfrüchte aus Israel, holländische Eier und portugiesische Sardinen, italienische Trauben und Schweizer Schokolade. Der Platz, an dem ich schreibe, liegt in Europa.

Und nachts manchmal blinken durch den Dunst der Stadt, des Landes und des Erdteils die Sterne. Ich schaue hinauf und weiß, daß der Platz, an dem ich schreibe, ein Punkt auf einem Planeten ist, den ein Unbekannter Erde genannt hat. [...] Geographen und Anthropologen, Chemiker und Biologen, Atomphysiker und Spekulanten streiten sich um das Alter des Planeten, auch um seine Lebensdauer. In den fünf Millionen oder Milliarden Jahren sind mir, so es der Krebs oder der Herzinfarkt, die Tuberkulose, das Auto, Flugzeug oder die Straßenbahn, oder mein Lebenswille es zulassen, sechzig, siebzig, achtzig Jahre zugemessen. Nicht erst an dieser Stelle werden Raum und Zeit identisch. Der Platz, an dem ich schreibe, liegt irgendwo im Jünglings- oder Greisenalter des Planeten Erde und im zwanzigsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung und in der Bundesrepublik Deutschland und in Köln am Rhein und in meiner Mietwohnung und an einem Schreibtisch, der sich im Traum bisweilen noch immer in ein Stehpult verwandelt.«

 

 

Text von Paul Schallück: "Nachruf".

Vorgetragen von Volker Hein.

 

Originaltext, Kürzungen für den Vortrag rot gekennzeichnet. Quelle: KarK. Heinz Kramberg (Hrsg.) · Vorletzte Worte - Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf · Frankfurt am Main 1974

 

Unbedenklich sagte er zu, als er gefragt wurde, ob er Lust hätte, auf sich selbst einen Nachruf zu schreiben. Er dachte nicht an einen makabren Scherz, wollte vielmehr einen Schluck Selbstironie trinken, sich vor einen nur leicht verbogenen Spiegel setzen und darin sich und seine Arbeiten betrachten.

 

Aber noch bevor er vor dem Spiegel zu Stuhle kam und seinen

»Nachruf zu Lebzeiten« formulieren konnte, wurde er schmerzhaft

daran erinnert, daß er ein Verwundeter war. In seinem zerschossenen

Kriegsbein war nach fünfundzwanzig Jahren – wie ein Handwerksbursche zu Zunft-Zeiten - ein Knochensplitter auf unerwartete Wanderschaft gegangen. Groteskerweise hatte sich der knöchrige Bursche auch noch der letzten der mondänen Formen angepaßt: en miniature dem Bild einer Mondlandefähre mit

klobiger Kommandokapsel, gestreckten Spinnenbeinen und einigen scharfen Antennen. Dieser gefährlichen Wanderschaft durchs Oberschenkelfleisch, um Millimeter an Blutgefäßen und Nervensträngen vorbei, mußte ein Ende gemacht werden. Nach allerlei Vorbereitungen schnallte man ihn auf den Operationstisch. Seine Mondfähre wurde geortet, mit. Skalpellen unterminiert und herausgeschaufelt.

Doch als er aus der Narkose erwachen sollte, war man rat-, sprach- und hilflos.
Er war gestorben.

Er ist vermutlich nicht nur an den späten Folgen seiner Kriegsverletzung gestorben. Denn Zeit seines ·Lebens war er gefährdet. Er war ein Verwundeter von Anfang an.

 

Aus der Gefangenschaft des ersten Weltkrieges, aus der Baikalsee-Stadt Irkutsk, hatte sein Vater eine Frau mitgebracht, ein Mädchen, das ihm auf ungewöhnliche Weise beigestanden haben muß während der letzten Jahre seiner sibirischen Kriegsgefangenschaft. Neunzehn Jahre war seine Mutter alt, als sie, fromm erzogen

und nach orthodoxem Ritus getraut, ihrem Mann nach Europa folgte.

Viele Jahre blieb sie in der großen Familie des Mannes, in der Nachbarschaft und in der westfälischen Kleinstadt, die Fremde zuerst bestaunt wie etwas Exotisches, danach behandelt wie etwas Fremdartiges. Sie sprach nur gebrochen deutsch,

sie mußte die schwere Sprache von den Lippen der Mitmenschen lernen.

In dieser Schule bekam sie manchen Fußtritt und zahlreiche Stiche in den Rücken, ins Gesicht und ins Herz. In den Feinheiten des Zusammenlebens, in Konventionen, Traditionen und in den ungeschriebenen Gesetzen kannte sie sich nicht aus und verstand lange nicht, warum man dies tun, das lassen, so sprechen, das verschweigen,sich so geben mußte.

 

»Man« hatte wenig Geduld mit der Fremden im kleinbürgerlichen Milieu. Und die hämische Ungeduld verletzte sie, den Mann und ihre Kinder. Sie wurde ausgelacht, wenn sie in den Augen der anderen etwas falsch gemacht, sich »daneben benommen« hatte, wenn ihr das richtige · Wort nicht einfiel, wenn sie ein Wort falsch aussprach oder.auch nur falsch akzentuierte. Und das Kichern verwundete sie, ihren Mann und die Kinder. »Man« glaubte ihr kein Wort, wenn sie von Theater, Konzert und Kinoim sibirischen Irkutsk vor dem ersten Weltkrieg erzählte, »man« nannte sie eine Aufschneiderin. Und sie konnte sich nicht wehren gegen Gekicher, Getuschel und Verdächtigung.
Unschuldig wurde sie für vieles schuldig gesprochen, was »man« sich nicht sofort erklären konnte: für einen verlorenen Handschuh bei Familienfeiern, für ein Gerücht in der Nachbarschaft, für eine falsche Endsumme beim Kaufmann, für einen übertragenen Schnupfen, für üble Nachrede. »Man« verdächtigte sie oft, »man« beschuldigte sie des .bösen Blicks, »man« mißtraute ihr grundsätzlich, »man« verletzte sie, den Mann und die Kinder unwillentlich und bewußt mit Blicken, Gesten, Aus-dem-Wege-gehen, Übersehen, Grobheiten, Ins-Ohr-flüstern, während sie danebenstand.
Sie war das schwarze Schaf aus den Urwäldern Sibiriens. Und die Familie war der Sündenbock, auf den man eigene Unzufriedenheiten abladen, eigene Schuld abwälzen konnte, bis er verwundet in die Knie brach; ein Prügelknabe, der geschlagen wird, wenn man nicht den Mut hat, sich selbst zu schlagen.

 

Mit seiner Familie war .er in die Situation der Minderheit gedrängt oder geprügelt worden. Und auch er begriff viel zu spät was da vor sich ging, um sich wirkungsvoll wehren zu können. Auch er hatte lange Zeit keinen Begriff für das eigene und für das Verhalten der anderen. Die Querelen und Belästigungen, die Demütigungen und · Entwürdigungen, die vielfachen Verletzungen spürte er, reagierte auf sie aber beinahe instinktiv, wie Minderheiten ohne Selbsterkenntnis, gleich welcher Provenienz und in welchem Land oder Jahrhundert, immer auf intolerante Umwelten zu reagieren pflegen: Er nahm die erwartete Rolle des Außenseiters an. Und er verbarg seine Wunden, vielleicht aus Scham, vielleicht aber auch, damit niemand gereizt würde, in ihnen zu bohren, eine Geste, ·die sich in ·mannigfachen Variationen in seinem späteren Leben und auch in· seinen literarischen Arbeiten nachweisen läßt.

 

Daß und wie tief er in seiner· Kindheit verwundet worden war, fand seinen ersten Ausdruck, als er Anfang des Zweiten Weltkrieges, noch auf der ·Schule, eine vierzehnteilige Sinfonie in Versen zu Papier brachte. Es ist nicht mehr auszumachen, ob weitere Stücke geplant waren. Er gab seiner Vers-Sinfonie den Titel »Der Verwundete«: barbarisches Geschrei, ungezügeltes Gestammel über Blut und Eiter, Dreck, Würmer, ·Schwefel, zerfetzte Eingeweide, zertrümmerte Knochen, über das Mitleidsgeseiche der Heilen, über ihre geilen Blicke, ihre lüsternen Berührungen seiner faulenden Glieder und über die Hybris unversehrten Fleisches; sentimentaler Jammer über einen gefallenen Freund, der in seinem Leben nicht existiert hatte; expressionistischer Schrei nach dem Menschen, der als Mitmensch gesucht wird; kraftmeierisch und ungenießbar zweifellos; auch der Ausbruch pubertären Gerölls.

Aber er gab dem Poem den Titel »Der Verwundete«. Er hat später über dieses erste, niemals veröffentlichte, für die Öffentlichkeit auch gar nicht gedachte Produkt gelacht, wenn es ihm in die Hand fiel. Vielleicht hat er selbst nicht begriffen, was sich da in eruptiver Parabolik ausgesprochen und ins ungefüge Wort geflüchtet hatte.

 

Als er drei Jahre später in corpore verwundet wurde, mitten in Paris am Pont Neuf, angeschossen von französischen Resistance-Leuten, während er auf der Straße kniete und einen blessierten Kameraden verbinden wollte, aufgelesen und sogleich auch gefangengesetzt von französischen Medizinstudenten mit Fahnen und den Armbinden des Roten Kreuzes, hatte er seine grausige Sinfonie längst vergessen. Das Bewußtsein, daß er noch lebte, daß der Krieg sich noch nicht ausgetobt hatte, für ihn aber beendet war, stimmte ihn in den ersten Tagen und Wochen euphorisch.

Vor allem aber deckte die Metapher von der Verwundung, die er in den frühen Versen für ansonsten Unfaßbares rücksichtslos ausgeschlachtet hatte, die Erfahrungen nicht, die er nun mit der wirklichen, leiblichen Verwundung machen mußte. Es ist bemerkenswert, daß er die Schmerzen im neunmonatigen Gipsbett, die Qualen der Unbeweglichkeit, die Hinfälligkeit der Muskulatur in den Armen und Beinen, in der Blase und im After, den Verlust jeglicher Privatheit, die verlorene Intimität, die grausigen Träume in vielen Narkosen, die hoffnungslose Zartheit

von Freundschaften zwischen Bett und Bett, daß er die nächtlichen Schreie nach einem Sanitäter, das hundertfache Sterben in den überfüllten Lazarettsälen mitten in Paris und die Hilferufe nach der Mutter, die gewimmerte Beschwörung fremder Namen, daß er die tausend kleinen Demütigungen der Gefangenschaft in der Banlieu von Paris, die Entwürdigungen durch Hunger und Holzpritschen ohne Matratze, ohne Stroh, durch den unstillbaren Sexus und durch Heimweh, durch Eifersüchteleien und Intrigen, durch die Willkür der Wachmannschaften und Kapos -

daß er all das nie beschrieben hat.

Seine eigenen Verwundungen hat er, wie gesagt, versteckt, vielleicht aus unbeschreibbarer Scham, vielleicht auch aus Furcht, den Heilungsprozess zu verzögern, der vermutlich nie zu einem Ende gekommen ist.

Aber was immer er nach dem Krieg, als er sich für’s Schreiben entschieden hatte, an Romanen und Erzählungen, auch an Hörspielen oder Essays geschrieben und veröffentlicht hat – unter anderem, was eingehenderen Untersuchungen überlassen bleiben muß, sind es immer auch Berichte über Verwundungen, Zeugnisse von der Verwundbarkeit, von der körperlichen und geistig-seelischen Verletzbarkeit des Menschen.

 

»Wenn man aufhören könnte zu lügen«, sein erster Roman, besagt schon im Titel, in welcher Spur er läuft. Die vielfach erfahrene und erlittene Lüge, das eigene, ins Unbewußte und Automatische abgetriebene Lügen haben die Figuren dieses Romans, vor allem die Studenten der Nachkriegszeit, die zum Bewußtsein ihrer

Situation gelangten, besonders die Hauptfigur, lebensgefährlich verletzt. In den Stoff und in die Figuren ist nichts Autobiographisches eingedrungen. Unverkennbar aber bleibt eben doch das Motiv der Verwundung. Damit er selber weiter schreiben konnte, durfte die Verwundung wahrscheinlich auch für die Hauptfigur nicht tötlich sein. Er steht am Schluß auf einer Brücke, das Seil um den Hals, um ein Ende zu machen: » ... ich spüre das Seil um den Hals, aber ich kann noch atmen und die Luft spüren, wie sie über die.Zunge fließt, durch den Hals, durch die Lungen, ins Blut, ins Herz, in den Kopf . . . das Seil aufknoten können, während man atmet, es über den Kopf hinwegheben, die Fingerspitzen einige Millimeter ·öffnen und· das Seil herausgleiten lassen und hinterherschauen ... und dabei atmen, bis das Seil davongeschwommen ist ....«

Der nächste Roman, »Ankunft null Uhr zwölf«, macht sich die Kompositionsform der Montage nutzbar, um Liebe und Tod in ihren Beziehungen zueinander und die Reaktionen von Menschen auf diese existenziellen Einfallskräfte aufzuzeigen.
Alle Personen des Romans, der keine Hauptfigur kennt, werden in der Gesellschaft

der Nachkriegszeit oder wurden während des Krieges von der Liebe wunderlich verwundet, zugleich aber werden sie mit der Möglichkeit des eigenen Todes und einem gegenwärtigen, langsamen Sterben konfrontiert, mit dem Tod also, der dem Menschen die letzte Wμnde beibringt. »Ihre neunzehn Jahre waren umsonst gewesen, und es hatte keinen Sinn gehabt, daß sie gut gewachsen war, daß sie gehen, sprechen, nachdenken gelernt hatte, daß sie gelacht und gelächelt, bezaubernd gelächelt, geweint und eines Nachts auf seinem Zimmer erfahren hatte, was auch zur Liebe gehört.«

In der »Unsichtbaren Pforte« taucht dann als Hauptfigur ein im Kriege Verwundeter auf, ein junger Buchhändler, der schon im Lazarett gelernt hatte, seine Schmerzen mit starken Betäubungsmitteln zu besänftigen, und so zu einem Süchtigen geworden

war. Er macht nun einen Anlauf, um sich in einer Anstalt von seiner Sucht zu befreien. Ein Sisyphos-Thema, ein Stück aus der Kurve eines Sisyphos-Schicksals, verwandelt in zeitgenössischen Erzählstoff. Sisyphos ist eine der mythischen Symbolfiguren für die Qual des menschlichen Lebens, für die Verletzbarkeit, aber

auch für den Triumph: niemand erlebt größere Freuden als er ,wenn er seinen Stein auf den Berg gerollt hat und die Sonne aufgehen sieht; vergleichbar dem Stolz eines Süchtigen, der aus eigenen Kräften seine Sucht überwunden hat.

»Jedesmal, wenn er eine Treppe hinaufsteigen mußte, hatte er Angst, die oberste Stufe nicht zu erreichen. Und wie viele Treppen war er schon hinaufgehastet,

hinaufgekeucht, nach oben zu immer kleineren Etappen mit immer größeren Pausen, gepeinigt von der Vorstellung, nicht oben bleiben zu dürfen, beim Hinuntergehen

all die Stationen seiner Schwäche und Schmach wie Blutspuren noch einmal passieren zu müssen.«

»Engelbert Reineke«, Studienassessor in einer westdeutschen Kleinstadt muß sich mit den Schatten der Vergangenheit herumschlagen. Sein Vater ist in einem Konzentratlonslager umgekommen. Die Menschen, die ihn dort hingebracht haben, sind jetzt Engelbert Reinekes Kollegen an der Schule. Wie der Autor selbst

Wurde Engelbert· Reineke in Kindheit und Jugend mannigfach verletzt: in der Minorität der Hitler-Gegner von Angepaßten, Intriganten, Mitläufern, von Postenjägern und überzeugten Nazis. In der Gegenwart des Romans, in der die Zeiten sich überschneiden, ist Engelbert, der von seinen Kollegen als die leibhaftige Mahnung an ihre eigenen Untaten oder Unterlassungen empfunden wird, Tag für Tag die Zielscheibe, auf die sie aus der Hüfte, durch Gardinen, hinter der Ecke anlegen mit dem Ziel, ihn zu treffen und so schwer zu verwunden, daß er den Platz räumt, flieht dann doch nicht, wie der Student auf der Brücke nicht springt, wie der Süchtige endlich doch zur Heilung in die Anstalt geht. Sonderbare Romanschlüsse, die sich nur erklären lassen, wenn man den jeweiligen existenziellen Anteil des Autors an seinen Figuren mitberechnet. (Doch)dem Engelbert Reineke wächst eine

Haut, die ihn-vielleicht - vor künftigen Verwundungen schützt. Aber das ist keineswegs sicher, wie es unsicher bleibt, ob der Student nicht doch eines Tages wieder auf der Brücke landet, ob der Süchtige nach seiner Entwöhnung nicht doch wieder der Sucht und dem schließlichen Untergang verfällt.

Und der Don Quichotte seines Romans »Don Quichotte in Köln« tritt geradezu als ein Urbild des Verwundbaren aus den Seiten. Die Hauptfigur ist ein Rundfunkredakteur, der sieben Jahre lang über den Sender von all den schönen, auch notwendigen, von all den helfenden Dingen, Ideen und Idealen hat sprechen lassen, die man in dem Begriff Humanität zusammenfaßt. Aber eines Tages bricht er aus seiner sozusagen theoretischen Existenz aus. Er will nicht mehr nur reden über Humanität, er will sie verwirklichen, durch Leben zur Wahrheit ergänzen. Er versucht, die humanen Forderungen im Alltag einer deutschen Großstadt zu realisieren, in einer· Gesellschaft, die von Humanität unendlich viel redet, ihre Praktizierung aber als Anachronismus betrachtet. »Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.«

Die Verhältnisse, das Verhalten der Menschen in einer komplexreichen und wirtschaftswunderlichen Gesellschaft, vereiteln sein Vorhaben immer wieder.

Was er denkt, ist richtig, alle stimmen ihm zu. Doch wenn er handelt, schießt er um Zentimeter am Ziel vorbei. Er gibt denen zu trinken, die hungrig sind; er gibt denen zu essen, die Durst haben. Er müßte seine Handlungs-Methoden ändern. Aber das

kann er nicht. So wird er zu einem Narren, zu einem Don Quichotte. Man lacht über ihn, man erklärt ihn für einen Utopisten, einen verspäteten Moralisten, einen Unruhestifter, einen Querulanten. Man wird böse, man schlägt ihn körperlich, man verletzt ihn beinahe in jeder Szene. Und ganz normal, wie wir es sind, ist er ja wirklich nicht. Er glaubt doch wahrhaftig an das, was wir sagen. Ist das normal?

 

In seinem Essay »Virus Unmenschlichkeit« hat er die Verwundbaren und die in unserer Gesellschaft täglich Verwundeten benannt: die Juden und die Gastarbeiter, den Außenseiter als Bibelforscher, Heilsarmist, Kriegsdienstverweigerer oder Homosexueller, die politisch unbequemen, die entlassenen Sträflinge, die

Kinder, die Kranken, die Alten, die Sterbenden. Gedanken über das erstarrte System der Gleichgültigkeit, der kaltherzigen Routine, der inhumanen Gedankenlosigkeit, in dem und durch das immer wieder Menschen verwundet werden.
Diese wenigen Beispiele sollten zeigen, daß ein Grundzug seiner literarischen Arbeiten die variable Dokumentation der variablen Verletzbarkeit des Menschen ist, nicht im philosophisch-abstrakten Sinne, sondern ·stets unter Hinweis auf das gesellschaftliche System, das die Verletzungen möglich macht.

Er selbst hat, das darf man annehmen, anders über seine literarischen

Arbeiten gedacht. Und es ist wahrscheinlich, daß er diesen Interpretationsversuch einseitig, wenn nicht gar eine Vergewaltigung oder eine Unterschlagung vieler anderer Motivationen und Grundzüge nennen würde, könnte er ihn lesen.

Aber seinem Nachrufer muß es erlaubt sein, wenigstens einen Grundzug sichtbar

zu machen.

Er ist vermutlich nicht an den späten Folgen seiner Kriegsverletzung allein gestorben. Denn Zeit seines Lebens war er gefährdet; er war ein Verwundeter von Anfang an, wofür seine literarischen Arbeiten vielfach Zeugnis ablegen.

 

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