Ortsgeschichte | Radrennbahn Albert Richter
„Radrennbahn Albert Richter“ in Müngersdorf
Wir wissen nicht, wie oft der Radrennfahrer Albert Richter die Aachener Straße hinab gefahren ist, um auf der Radrennbahn in Müngersdorf zu trainieren – zu Beginn seiner Karriere geschah dies sicherlich täglich. Sein Leben und seine Trainingsgewohnheiten änderten sich erst, nachdem er am 3. September 1932 Weltmeister im Sprint der Amateure geworden war. Er wurde Berufsrennfahrer, reiste kreuz und quer durch Europa und hielt sich nur noch selten in Köln auf, nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurden die Besuche zunehmend rarer. 1940 starb der erfolgreiche Kölner Sportler unter ungeklärten Umständen in einer Gefängniszelle in Lörrach.
Albert Richter wurde am 14. Oktober 1912 in Ehrenfeld geboren, mit 16 Jahren begann er hinter dem Rücken seines Vaters mit dem Radsport auf der Bahn. Der WM-Sieg des Nippesers Mathias Engel vor
heimischem Publikum auf der Radrennbahn in Müngersdorf soll seine Leidenschaft für den Radsport geweckt haben. Häufig trainierte er in der Ehrenfelder Rheinlandhalle, wenige hundert Meter Luftlinie
von seinem Elternhaus in der Sömmeringstraße entfernt. Bald gehörte der sportliche junge Mann zu einer Clique von Kölner Radrennfahrern, die regelmäßig morgens auf der Straße gemeinsam ausfuhren und
sich nachmittags Richtung Müngersdorfer Stadion aufmachten. Dort trainierten mitunter 50 Radsportler gleichzeitig. Noch 60 Jahre später erinnerten sich ehemalige Radrenn-fahrer an die gemeinsame
sorglose Zeit. Jean Schorn, der später mehrere deutsche Meistertitel errang, wusste zu berichten: „Ich habe viel mit ihm im Stadion trainiert, wir beide alleine, früh nachmittags, wenn die anderen
noch nicht da waren. Dann hat er gesagt: „Komm wir spurten jetzt. Du ziehst mir drei Spurts an, ich zieh dir drei Spurts an. Und das als großer Richter!“
Richter wurde Profi
Schon wenige Wochen nach seinem WM-Triumpf in Rom im September 1932 wurde Richter Profi – eine für ihn einmalige Möglichkeit, der bisherigen Arbeitslosigkeit erfolgreich zu entkommen und darüber
hinaus ausreichend Geld zu verdienen, um auch seiner Familie – Eltern und zwei Brüder – finanziell unter die Arme greifen zu können. In den folgenden Jahren wurde er zweimal Vize-Weltmeister und
siebenmal deutscher Meister.
Als Profi wurde Albert Richter von einem Manager aus Köln betreut: Ernst Berliner war ehemaliger Radsportler – er startete vor dem Ersten Weltkrieg bei Rennen auf der Stadtwaldbahn in Lindenthal
–, betrieb eine Polsterei in der Sternengasse und managte weitere Radrennfahrer. 1937 brachte er seine jüdische Familie in die Niederlande in Sicherheit. Offiziell durfte er als Jude Albert Richter
nicht mehr betreuen, aber die beiden Männer, die ein Vater-Sohn-Verhältnis verband, hielten sich nicht an die neuen Gesetze in Deutschland; Berliner managte seinen Schützling von den Niederlanden aus
weiterhin. Bei den Bahnweltmeisterschaften 1938 in Amsterdam berieten sich die beiden Männer in aller Öffentlichkeit, obwohl das Olympiastadion voller deutscher Schlachtenbummler war.
Richter stammte aus dem Arbeiterviertel Ehrenfeld, und seine Familie verkehrte in sozialdemokratischen Kreisen. Seine politische Attitüde konnte man erahnen, als 1934 bei den deutschen
Meisterschaften in Hannover inmitten von Funktionären mit erhobenem Arm sein Arm unten blieb. In den folgenden Jahren entfernte er sich immer weiter innerlich von seinem Heimatland und kam seltener
nach Köln, auch weil Profirennen im Sprint immer seltener in Deutschland ausgetragen wurden. Er startete in anderen europäischen Ländern und besonders häufig in Frankreich. Die französischen
Rennfahrer Louis Gérardin und Lucien Faucheux wie auch der belgische Sprinter Jef Scherens wurden zu guten Freunden.
3. Platz im Sprint
Der Zweite Weltkrieg brach am 1. September 1939 aus, als auf der Mailänder
Vigorelli-Radrennbahn die Bahn-Weltmeisterschaften ausgetragen wurden. Richter hatte sich im Sprint schon den dritten Platz gesichert – das Finale zwischen seinem Freund Scherens und dem
niederländischen Newcomer Arie van Vliet fiel aus, da die Wettkämpfe abgebrochen wurden. Richter verabschiedete sich in Mailand von seinen Freunden mit Tränen in den Augen. Einem befreundeten
Journalisten vertraute er an, er wolle sich der Wehrpflicht entziehen, um nicht auf „Menschen schießen zu müssen, die ich liebe, die mich lieben und denen ich so viel zu verdanken habe“.
Ob und wann er den endgültigen Entschluss fasste, Deutschland für immer in Richtung Schweiz zu verlassen, ist unbekannt. Weihnachten 1939 verbrachte er noch bei seiner Familie in Ehrenfeld,
dann bestieg er am 31. Dezember den Zug Richtung Süden. In seinem Gepäck, versteckt in den Reifen, hatte er 12.700 Reichsmark dabei, die einem schon ins Ausland geflüchteten Juden gehörten. Offenbar
wollte Richter die letzte Möglichkeit wahr-nehmen, dieses Geld seinem Freund zu überbringen.
Drei Tage später war Albert Richter tot: Bei seinem Übertritt in die Schweiz hatte der Zoll das Geld gefunden. Mutmaßlich wurde er verraten. Am Morgen des 3. Januar wurde er tot in seiner Zelle im
Gefängnis von Lörrach aufgefunden. Die NS-Propaganda verbreitete mehrere Versionen der Todesursache, es war von einem Unfall, dann von Selbstmord durch Erhängen die Rede. Richter habe sich „außerhalb
der deutschen Volksgemeinschaft“ gestellt, und sein Name sei „für alle Zeiten in unseren Reihen gelöscht“. Ob Richter tatsächlich Selbstmord beging oder – wie vielfach vermutet und auch
wahrscheinlich – von der Gestapo ermordet wurde, bleibt ein Geheimnis, das auch durch staatsanwalt-liche Ermittlungen im Jahre 1967 nicht gelüftet werden konnte.
Josef Richter brachte seinen toten Bruder mit einem LKW aus Lörrach heim nach Köln. Er selbst hatte den Leichnam noch im Totenkeller kurz gesehen und von einer Blutlache und Einschusslöchern
berichtet. Den Eltern wurde untersagt, den versiegelten Sarg nochmals zu öffnen sowie vor der Beerdigung eine Todesanzeige in die Zeitung zu setzen, was Hunderte von Kölnern nicht daran hinderte, an
der Beerdigung auf dem Ehrenfelder Friedhof teilzunehmen.
Vergessen und beschimpft
Nach dem Krieg geriet Richters Schicksal in Vergessenheit: Seine beiden Brüder waren im Krieg gefallen, seine Eltern psychisch gebrochen und krank, Ernst Berliner lebte inzwischen mit seiner Familie
in den USA. Viele Radsport-Funktionäre der Vorkriegs-zeit befanden sich nach 1945 wieder in Amt und Würden, sodass es kein großes Interesse an einer Aufklärung von Richters Tod gab. Stattdessen wurde
seine Familie beschimpft, Richter sei ein „Feigling“ gewesen. In den 1950er-Jahren kam jedoch Jef Scherens aus Belgien zu Besuch und ließ nach belgischer Sitte ein Bild von Albert an dessen Grabstein
anbringen.
1990 wurde in der ARD der Dokumentarfilm „Auf der Suche nach Albert Richter – Radrennfahrer“ ausgestrahlt, in dem die beiden Hamburger Filmemacher Raimund Weber und Tilmann Scholl versuchten,
Richters Schicksal aufzuklären. Der Film war Anlass für einige Kölner, sich für die Benennung der in Bau befindlichen neuen Radrennbahn (an der Stelle der alten von 1927, auf der Richter trainiert
hatte) in Müngersdorf nach Albert Richter zu engagieren. 1996 wurde das Stadion eröffnet, das allerdings offiziell den Namen „Radstadion Köln“ trägt; lediglich die Radrennbahn selbst ist nach Richter
benannt.
Zwei Jahre später erschien Richters Bio-grafie „Der vergessene Weltmeister“. 2008 wurde der Rennfahrer in die „Hall of Fame“ des deutschen Sports aufgenommen und eine Tafel zur Erinnerung an ihn an
der Rheinlandhalle in Ehrenfeld angebracht, im Jahr darauf ein Stolperstein für ihn in der Sömmeringstraße verlegt. 2010 wurde in Lörrach, wo man erst durch die Biografie von Albert Richter auf
dessen mit der Stadt verknüpftem Schicksal aufmerksam geworden war, eine Straße nach ihm benannt.
2016 besuchte eine Delegation junger französischer Radrennfahrer aus der Bretagne in Begleitung des Parlamentsabgeordneten Pierre-Yves Le Borgn’ die Albert-Richter-Bahn in Müngersdorf sowie Richters
Grab auf dem Ehrenfelder Friedhof, wo Le Borgn’ einen Kranz niederlegte. Der Besuch geschah im Rahmen eines Austauschs, der auf Initiative des Bretonen Yves Favé zustande gekommen war. Favés Vater
Fañch, ebenfalls Radrennfahrer, war einer der französischen Freunde, auf die Albert Richter nicht hatte schießen wollen.
Quellen
Renate Franz: Der vergessene Weltmeister, Bielefeld 2007
Thomas Deres/Gabi Langen: Müngersdorfer Stadion Köln, Köln 2000
Heribert Rösgen: Französische Gäste ehren Albert Richter, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 5. Juli 2016
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